Kulturelle Bildung

Ich will frei sein, oder tot!

Meist lohnt es sich, Sachverhalte zunächst zu klären. Denn alle Probleme können erst einmal ausgehend von ihrer sprachlichen Gestalt untersucht werden. Der Begriff „Kulturelle Bildung“ besteht aus zwei Wörtern, wobei das vorangestellte Wort das folgende differenziert. Ich beginne deshalb mit Bildung. Dieser schöne Begriff enthält das Wort ‚Bild’ und bezieht sich auf das aktive Verb ‚bilden’, also ein Bild machen, ein Abbild erstellen, sich vielleicht ein Bild von sich selbst machen (was auch daneben gehen kann: z.B. einbilden). Es handelt sich demnach um aktives und individuelles Tun. Das Eigenschaftswort ‚kulturell’ leitet sich von Kultur ab und bedeutet also ‚die Kultur betreffend’: Kultur ist die Gesamtheit der geistigen und künstlerischen Leistungen. Worauf könnte sich Bildung beziehen, wenn nicht auf Kultur? Ist Bildung ohne Kultur vorstellbar? Ist der Begriff „Kulturelle Bildung“ eine Tautologie, ein Oxymoron, ein Pleonasmus oder gar eine Contradictio in adiecto? Vielleicht ist er sogar enigmatisch? Beschränken wir uns erst einmal doch lieber auf ‚Bildung’.

Sich ein Bild machen ist also aktives Tun. Ist also selbst machen, selbst bestimmen, selbst lieben, selbst denken, selbst leben, um nur einige begleitende Bedeutungen zu nennen. Schon Aristoteles wusste, dass dem Menschen das Nachahmen angeboren ist, seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt und jedermann Freude an Nachahmungen hat. Und an anderer Stelle sagt er, dass alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben. Auf diese bildende Kraft zu vertrauen, bedeutet, dem Menschen die Freiheit zu geben bzw. zuzumuten, sich zu verwirklichen und er selbst zu werden. Ohne Freiheit keine Bildung!

Das ist ein scheinbares Paradox. Aber „durch nichts wird die Freiheit in gleichem Grade befördert, als durch die Freiheit selbst“ (Wilhelm von Humboldt). Daran sollten wir uns erinnern, wenn wir mit den Schulen zusammen arbeiten. In den Schulen wird in erster Linie Wissen vermittelt. Der Besuch des Unterrichts ist Pflicht, die individuelle Leistung wird geprüft und bewertet. Diese Struktur lässt der Freiheit wenig Entfaltungsraum. Die Ausdehnung des Unterrichts in Form von Ganztagesbetreuung und die Erweiterung dieses Systems in die Kinderkrippe und Universität lässt befürchten, dass selbstbestimmtes (Nichts-) Tun oder Geselligkeit außerhalb altershomogener Gruppen noch stärker eingeschränkt wird. Das damit einhergehende informelle Lernen wird zeitlich beschränkt, mit allen Folgen für die Einzelnen. Sollte der Traum von der flächendeckenden Einführung der Rund-um-die-Uhr-Betreuung von der Wiege bis zur Bahre Wirklichkeit werden, dann werden die verbleibenden Freiräume der Selbstverwirklichung noch wichtiger.

Deshalb muss die außerschulische „Kulturelle Bildung“ den Instrumentalisierungstendenzen durch die Schule widerstehen und gebührenden Abstand zu Strukturen aufrecht erhalten, die diese Freiheit einschränken. Ansonsten handelt es sich lediglich um Animation, die den Alltag verschleiert und die Situation vorübergehend erträglicher macht.

Schon Heraklit soll davor gewarnt haben, die Schüler mit Wissen abzufüllen. Es sei stattdessen besser, sie zu begeistern und Flammen zu entzünden. Insofern ist Bildung ein andauerndes Zündeln: Das Erzeugen von Funken, die stark genug sind, um Explosionen auszulösen, Explosionen von menschlicher Genialität.

Das erste „Märchen für mutige Kinder“, mit dem wir unser neues Programmangebot im Februar 2012 eröffnet haben, handelt von einem jungen, wilden Mädchen, das weggesperrt wurde, als es neugierig und selbständig wurde. Erst durch die Liebe und nach schweren Prüfungen erlangte es die Freiheit. Das zentrale Lied hat ein geniales Motto: „Ich will frei sein, oder tot!“

27.03.2012 Helmut von Ahnen

Youtube-Link: http://www.youtube.com/watch?v=hmCpJWEJONg