Das Theater und das Politische

Rede zur Eröffnung des FestSpielHauses am neuen Standort in München-Ramersdorf

Man hat dieses Gebäude kreativ und mit sehr viel Sorgfalt den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen dieser Stadt jetzt zur Verfügung gestellt. Der Aufwand rechtfertigt sich allemal, denn diese Entscheidung ist geprägt von großer Weisheit und Weitsicht.

Zu den welthistorischen Tatsachen gehört das Wissen, dass vor etwa 2.500 Jahren in Athen die demokratische Stadtgemeinschaft zusammen mit dem Theater und der Rhetorik entstand. Die Griechen feierten damals im Frühjahr die Großen Dionysien, ein mehrtägiges Fest mit Tausenden von Zuschauern und Besuchern, einer Vielzahl von Prozessionen, Ritualen, aber vor allem mit Theater. Mit anderen Worten: Die Griechen gaben sehr viel Geld aus, um das Theater zu fördern und um die Stücke – Tragödien, Komödien oder Satyrspiele – der Bevölkerung zu zeigen.

Gleichzeitig mit der entstehenden Demokratie beschäftigte sich das Publikum mit Geschichten, die existenzielle Fragen des menschlichen Daseins erzählten, wobei es meist keinen Bezug zu aktuellen politischen Konflikten oder real agierenden politischen Persönlichkeiten gab. Das Politische war verwoben mit den zeitlosen Herausforderungen der menschlichen Existenz und deshalb geeignet, mit anderen einen Dialog zu diesen übergreifenden Fragen zu führen. Die Tragödien mit ihren ausweglosen Konflikten ermöglichten auf diese Weise den Zuschauern, Erfahrungen und Einsichten für die Gestaltung der eigenen Lebenspraxis und für das Zusammenleben in der demokratischen Gemeinschaft zu nutzen.

Wer etwas verändern will, braucht mehr als gute Argumente. Staatlicher Druck reicht dafür nicht aus, sondern bewirkt mitunter das Gegenteil. Man muss tiefer ansetzen, am besten dort, wo der Verstand zurücktritt und der Mensch sich als sinnliches Wesen erfährt. Bekanntlich reagiert unsere Spezies stärker auf sinnliche Lust als auf Zwang. Im allerersten Buch über das Theater, in der Poetik des Aristoteles, findet sich die aufschlussreiche Stelle „Das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren. Es zeigt sich von Kindheit an und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, dass er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt. [Es zeigt sich auch an der] Freude, die Jedermann an Nachahmungen hat. […] Das Lernen bereitet den […] den Menschen größtes Vergnügen, […] weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen.“ Mit diesem Wissen investierten die Griechen in der Antike viel Geld in den Bau von Theateranlagen und Inszenierungen.

Sie sind alle in diesen Theaterraum gekommen über dessen Eingang eine Marmortafel hängt mit der altgriechischen Weisheit „gnothi sauton“ oder „Erkenne dich selbst“. In diesem Sinn eröffnen wir heute eine Brutstätte der Selbsterkenntnis, ein Haus des Spiels und des Festes. Ein Gebäude, in dem Phantasie, Kreativität und die Freiheit zur Zwecklosigkeit eine Heimat finden können. Denn was rein aus der Liebe zur Zwecklosigkeit entsteht, war schon immer der unmittelbare Ausdruck von Selbstbehauptung und Freiheit.

Über der gegenüberliegenden Tür steht „Panta rhei“ oder „Alles fließt“. Deshalb jetzt genug (zwecklose) Theorie. Ab jetzt gibt es wieder ein FestSpielHaus in München.

29.11.2019 Helmut von Ahnen