Manifest

Pluralität – Subjektivität – Professionalität

Seit dem 1. Januar 1995 gibt es in München das FestSpielHaus. Bereits der Name birgt drei inhaltliche Teile: Fest, Spiel und Haus. Das Fest gehört zu den primären Kulturphänomenen der menschlichen Gemeinschaft. Es handelt sich um Aktivitäten, die die Routine hinter sich lassen, sie übersteigen und virtuell außer Kraft setzen. Feste sind also bestens geeignete Anlässe, Erfahrungen zu machen, die der Alltag verweigert. Das Spiel gab uns die Natur für die Entladung überschüssiger Energie, Entspannung nach Kraftanstrengung, Vorbereitung für Forderungen des Lebens und Ausgleich für Nichtverwirklichtes (Huizinga). Es besteht aus freiem Handeln außerhalb des Bereichs des direkt materiellen Interesses und findet innerhalb bestimmter Grenzen von Zeit und Raum statt. Diesen Ort und diese Zeit wollen wir in einem Haus schaffen, einem Platz für Tragödien und Komödien, einem Raum für Träume und Erfahrungen, einem Treffpunkt der Phantasie und Wirklichkeit. Das Konzept für diese Idee versuchen wir im Folgenden zusammenzufassen.

Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die Definition der gesellschaftlichen Situation. Diese lässt sich mit den Schlagworten „Individualisierung, Pluralisierung und Modernisierung“ (Beck) umschreiben. Bei Individualisierung handelt es sich um den Verlust sozialer Formen und Bindungen sowie den Stabilitätsverlust durch das Ende der leitenden Überzeugungen, z.B. durch Wissenschaftsskepsis verbunden mit einer neuen Art von Kontrolle und Wiedereinbindung, z.B. durch televisionäre, monopolistische und internationale Kolonisation. Pluralisierung entwickelt sich durch das „Ende der großen Erzählungen“ (Lyotard) und der Entstehung einer „Neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermas), z.B. durch den Glaubensverlust an die Beglückungsversprechungen des Kapitalismus, des Marxismus oder der vollständigen Emanzipation durch die Aufklärung. Modernisierung beinhaltet die Tendenz zur Uniformierung ebenso wie die Ambivalenz von Fortschritt und Gefahr der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung. Je nach individueller Situation enthalten alle Gefahren auch immer Chancen, also sowohl emanzipierende, wie auch entmündigende Aspekte. Diese Auseinandersetzungen zu fördern und zu führen, wollen wir mit den folgenden Prinzipien versuchen.

Wir unterstellen, dass unsere Welt durch eine Vielheit von Sprachen, Modellen und Methoden gekennzeichnet ist, und zwar nicht nur in verschiedenen Werken nebeneinander, sondern auch in ein und demselben Werk gleichzeitig, so wie unterschiedliche Wertvorstellungen nicht ausschließlich in verschiedenen Individuen je für sich bestehen, sondern sogar in den gleichen Individuen nebeneinander vorhanden und wirksam sind. Diese Vielheit zuzulassen und zu gestalten betrachten wir als vorrangige Zielsetzung, indem wir z.B. unterschiedliche soziale, kulturelle, lokale oder nationale Zusammenhänge herstellen und miteinander ins „Gespräch“ bringen. Dieses Ziel wollen wir Radikale Pluralität nennen. Als Ausgangspunkt aller Erkenntnis, Empfindung und Wahrnehmung des Gestaltungswillens bezeichnen wir das Subjekt. Wir unterstützen Individuen bei der expressiven Entfaltung und Veröffentlichung dieser Bewusstseinszustände. Diese Zielsetzung wollen wir Radikale Subjektivität nennen. Unsere letzte Leitlinie soll Radikale Professionalität sein. Qualität soll der Dreh- und Angelpunkt des gemeinsamen Handelns von Amateuren und Professionellen im Interesse der Entwicklung einer ästhetisch-künstlerischen Kompetenz sein.

Das Interesse an dieser Kompetenz manifestieren wir durch die Herstellung produktiver Zusammenhänge, z.B. durch menschlich zu gestaltende Lebensweisen und Arbeit an der Grundlage des sozialen Lebens. Wir stellen uns dabei eine grundsätzliche Offenheit für Eigensinn und Widerspruch vor, eine Förderung der Wahrnehmung des Verschiedenen und des Dissens durch Spüren, Bemerken, Austauschen und Erfahren, wobei es uns vor allem auf die Wahrnehmung des Denkbaren geht, etwa im Sinne von Kant, der dies ein „Geistesgefühl“ nennt und damit die Erfahrung des Erhabenen meint. Unter Kompetenz verstehen wir nicht nur das Vermögen für dies oder das, sondern das Befolgen der Regeln und vor allem die Verfügung darüber.

Kunst und Kultur betrachten wir als Modellsphären, in der Grenzüberschreitungen möglich sein können und in der diese Erfahrungen zum Verstehen heutiger Wirklichkeit beitragen können. Ausdrücklich stellen wir fest, dass wir offen für alle sein wollen, aber nicht für alles. Das FestSpielHaus fördert die sozialen und kulturellen Beziehungen von Menschen unterschiedlicher und durchaus auch benachteiligter Bevölkerungsgruppen. Internationale Gesinnung, Toleranz und der Gedanke der Völkerverständigung sind Grundlage des Handelns. Genregrenzen werden überwunden, genauso wie die Trennung von Amateuren und Profis oder die Ächtung des Kommerziellen oder des Unterhaltenden. Jedwede Aktion, die diesen Idealen entgegensteht, findet keinen Raum.

Konkret werden wir Expeditionen in das Grenzgebiet von Halluzination und Körperlichkeit versuchen. Im Zeitalter der Aufhebung des Materiellen und des Verschwindens im Virtuellen sind wir herausgefordert, uns selbst im Zwielicht von Sein und Schein zu untersuchen. Der geeignete Ort für diese Forschungen ist das Theater, als Manifestation des Körperlichen. Hier begegnen sich konkrete Menschen als Spieler und Zuschauer. Das Theater ist ein Ort, der die Grenzen des sinnlich Erfahrbaren mit der Phantasie verbindet, der das Bewusstsein in das Reich der Ideen lockt, und uns Auskunft und Vergewisserung über das Dasein anbieten kann. In diesem Sinne verbinden wir Theater und Performance mit technischen Medien, schaffen Platz für Begegnungen materieller und immaterieller Art und lassen auch Raum für technisch-instrumentale Künste, wie z.B. Kochen. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass das Theater auf Märkten und öffentlichen Plätzen durchaus in der Lage war, sein Publikum zu finden und sogar ohne Subvention (zwar eher schlecht) existieren konnte. Es gelang, die Leute zusammen zu halten und zu unterhalten. Der englische Begriff des Entertainments verweist auf diesen Zusammenhang. Wir wollen diese Schranke zum Vergnügen niederreißen und das Publikum erfreuen.

Wir bearbeiten die Kunstgattungen Theater, Fest und Performance. Der Austausch erfolgt durch Workshops, Projekte und Veranstaltungen, wobei die Produktion gegenüber der Rezeption Priorität besitzt.

Dr. Helmut von Ahnen